Private Ermittlungen, Kapitel 12
Mit langsamen Schritten durchquerte ich die Lagerhalle und schaute mich dabei sorgsam um. Plötzlich vernahm ich ein leises Geräusch. Ich blieb stehen und lauschte. Das Geräusch klang wie ein Wimmern oder Schluchzen. Es war auf jeden Fall menschliche Ursprungs.
Ich konzentrierte mich und lokalisierte den Ursprung bei einem Kistenstapel an der linken Seitenwand des Lagerhauses. Langsam ging ich auf den Stapel zu. Das Geräusch wurde lauter und nun war ich mir sicher, dass es sich um das leise Schluchzen einer jungen Person handelte.
Als ich vor dem Kistenstapel ankam, blieb ich kurz stehen und schaute dann um den Stapel herum. Er stand nicht direkt an der Wand und als ich in den Zwischenraum blickte, sah ich den Ursprung des Schluchzen vor mir. Ein junges Mädchen, eindeutig noch einige Jahre vor der Pubertät, kauerte auf dem Boden. Sie hatte ihre Beine an ihren Oberkörper angezogen und ihr Gesicht dagegen gepresst. Ihre Schultern hoben und senkten sich im Takt ihrer Schluchzer.
Ihre Arme hatte sie um ihre Beine geschlungen und als ich genauer hinschaute, erkannte ich den zweiten kleinen Anhänger, den Marschall besessen hatte. Das Mädchen hielt ihn fest umklammert, als wäre er ein Rettungsring, der sie vor dem Ertrinken retten würde.
Vor dem Mädchen kauerte ich mich auf den Boden und nun schaute sie auf. Sie erschrak, aber zu meinem Glück ohne dabei aufzuschreien.
„Keine Angst, Kleines“, sprach ich sie an und versuchte, meine Stimme möglichst milde klingen zu lassen. „Ich tue dir nichts.“
Das Mädchen antwortete nicht. Statt dessen umklammerte sie den Anhänger noch etwas fester.
„Was machst du hier?“ fragte ich.
„Verstecken“, antwortete das Mädchen. „Warten.“
Ich wies auf den Anhänger in ihrer Hand. „Woher hast du den?“ fragte ich.
„Stephan…“, murmelte das Mädchen.
Ich glaubte zu verstehen. Marschall musste das Mädchen in dem Lagerhaus versteckt haben, als er merkte, dass man ihn verfolgte. Vermutlich hatte er ihr gesagt, dass sie auf ihn warten sollte und er bald zurück sein würde. Und um sie zu beruhigen, hatte er ihr einen seiner beiden Anhänger gegeben.
Wirklich erklären konnte mir diese Vermutung allerdings nichts. Weder wer das Mädchen war, noch woher sie kam und wieso Marschall sie hierher gebracht hatte. Und noch weniger, wieso man Marschall umgebracht hatte.
Eins war mir allerdings klar, ich konnte die Kleine nicht alleine hier zurück lassen. Und was auch immer sie bei Marschall gemacht hatte, sie konnte mir eventuell sagen, was hier passiert war und wieso, wenn sie sich erstmal beruhigt hatte. Sie der Polizei übergeben, kam für mich also erst einmal auch nicht in Betracht.
„Ich bin eine alte Freundin von Stephan“, sagte ich und kramte den Anhänger, den ich gefunden hatte, aus meiner Tasche hervor. „Er hat mir das gegeben und gesagt, dass ich dich hier abholen soll.“
Das Mädchen schaute zuerst mich und dann den Anhänger an. Ich konnte spüren, dass sie zweifelte. Aber sie hatte bereits so lange hier gewartet, dass sie vermutlich mehr als froh darüber war, dass jemand sie holte.
Ich reichte ihr meine Hand. „Komm, lass uns gehen“, bot ich ihr an. „Du siehst aus, als bräuchtest du ein gutes Frühstück.“
Das Mädchen nickte und ich glaubte ein kurzes Lächeln zu erkennen. Dann griff sie nach meiner Hand und stand auf. Gemeinsam traten wir zur Tür des Lagerhauses und ich warf einen kurzen Blick nach draussen. Es war alles ruhig. Dann huschten wir nach draussen und liefen gemeinsam zurück zu der Stelle, wo Yusuf mit seinem Wagen wartete. Dieser staunte nicht schlecht, als er das junge Mädchen an meiner Seite sah.
„Wer ist das?“ fragte er.
„Keine Zeit für lange Reden“, blockte ich ab. „Wirf den Motor an, wir müssen weg.“
Yusuf wollte noch etwas erwidern, aber da hatte ich schon die Tür zur Rückbank geöffnet und das Mädchen war hineingeklettert. Ich schnallte sie fest, während Yusuf um den Wagen herum lief und auf der Fahrerseite einstieg. Dann stieg auch ich ein und Yusuf fuhr los.
„Was geht hier vor?“ fragte er schliesslich, nachdem wir vom Hafengelände runter waren.
„Ich habe keine Ahnung“, gestand ich.
„Und wer ist die Kleine?“ fragte Yusuf.
„Auch das kann ich dir ehrlich gesagt nicht sagen“, musste ich zugeben. „Aber sie hat etwas mit den Geschehnissen von gestern Nacht zu tun. Der Kerl, den sie umgelegt haben, Marschall, er hat sie in dem Lagerhaus versteckt.“
„Das wird mir hier langsam alles ein wenig zu heiss“, gestand Yusuf.
„Dann kauf ich dir gleich ein Wassereis zur Abkühlung“, brummte ich. „Jetzt fahr uns in die Stadt. Rudolfplatz.“
„Tu dies, tu das“, maulte Yusuf. „Verdammt, ich will wegen dir nicht noch mehr Ärger, als ich sowieso schon habe. Und Kindesentführung ist kein Kavaliersdelikt.“
„Wir entführen niemanden“, widersprach ich ihm. „Die Kleine war vollkommen alleine, wenn überhaupt kümmern wir uns um sie, bis wir wissen, wer sie ist und woher sie kommt.“
„Mit dir kann man nicht wirklich reden, wenn du dir etwas in den Kopf gesetzt hast, oder?“ fragte Yusuf.
„Tja, und trotzdem versuchen es die Leute immer und immer wieder“, antwortete ich mit einem Grinsen.
Yusuf schwieg und lenkte den Wagen zum Rudolfplatz.
„Und was hast du nun vor?“ fragte er.
Ich schaute auf die Rückbank, wo das kleine Mädchen inzwischen eingeschlafen war. „Wer auch immer meinen Ex-Partner umgelegt hat, dürfte auch für die Kleine eine Gefahr darstellen“, antwortete ich.
„Dann geh zur Polizei“, schlug Yusuf vor, doch im selben Moment erkannte er selber, wie irrsinnig diese Idee nach der letzten Nacht war.
„Nein, Yusuf, die Sache muss ich selbst regeln“, bemerkte ich. „Ich kann die Kleine aber auch nicht mit zu mir oder in mein Büro nehmen. Jeder Halbaffe mit einem Auge und einem Internetanschluss findet in Sekunden heraus, wer ich bin, wo ich wohne und wo mein Büro ist.“
„Und wo willst du sie hinbringen?“ fragte Yusuf.
„Sagen wir, ich kenne jemanden, der hier in der Gegend wohnt, den ich fragen möchte“, antwortete ich. „Aber ich muss das alleine machen. Also bleib du hier mit der Kleinen stehen und pass auf sie auf, bis ich zurück bin.“
„Hey, ich bin doch kein Babysitter“, beklagte sich Yusuf.
„Ohne mich wärst du sogar ein Babysitter ohne Auto“, erinnerte ich ihn. „Keine Sorge, ich glaube nicht, dass es lange dauern wird.“
„Okay, aber beeil dich“, bat Yusuf. „Und bring mir einen Kaffee mit, wenn du zurück kommst. Ich bin hundemüde.“
Ich musste zugeben, dass ich auch anfing zu spüren, dass sie letzte Nacht alles andere als erholsam gewesen war. Aber noch trieb mich das Adrenalin an. Ich stieg aus und schloss die Tür hinter mir. Dann schritt ich die Strasse entlang in Richtung der Lounge, in der Hoffnung, dass Gabi bereits mit den Vorbereitungen für den Abend beschäftigt war.